man of the year 2023 – Teil 1

In Blog by Johann G. Böhmer

man of the year ….. sind dieses Jahr zwei Frauen:

Erstens Regina Rick, Strafverteidigerin, Fachanwältin für Strafrecht, wegen ihres zehn Jahre währenden enormen Einsatzes für Manfred Genditzki, der nach 13 Jahren Haft am 11. November 2023 freigesprochen und endgültig wieder aus der Haft entlassen worden ist. 

Zweitens Anne Brorhilker, auch Juristin, auch im Strafrecht tätig, aber auf der anderen Seite, und zwar als Oberstaatsanwältin bei der Staatsanwaltschaft Köln. Sie leistet auch seit zehn Jahren bereits ganz Außerordentliches bei der Verfolgung der Straftaten im Zusammenhang mit Cum-Ex.  

Im heutigen Teil 1 wollen wir Regina Rick und ihr Engagement im Fall Genditzki vorstellen. In den nächsten Tagen folgt dasselbe für Anne Brorhilker.

Manfred Genditzki, von Beruf Hausmeister, wurde am 12. Mai 2010 erstmals wegen vermeintlicher Ermordung der 87-jährigen Rentnerin Lieselotte Kortüm aus Rottach-Egern zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Schon während des Prozesses hatte die SZ die Staatsanwaltschaft mit harschen Worten kritisiert („Wiederum fordert die Anklage eine lebenslange Haftstrafe wegen Mordes. Wie die Staatsanwaltschaft München einem offensichtlich Unschuldigen ein Gewaltverbrechen andichten will“):

SZ vom 12. Januar 2010: „Der Mord, der keiner war“ von Hans Holzhaider

https://www.sueddeutsche.de/bayern/hausmeister-unter-tatverdacht-der-mord-der-keiner-war-1.1255739?print=true

Nachdem dieses Urteil wegen eines Verfahrensfehlers vom BGH aufgehoben und an eine andere Strafkammer des LG München II zurückverwiesen worden war,

BGH, Beschluss vom 12. Januar 2011 – 1 StR 582/10 openJur 2011, 119358

https://openjur.de/u/225878.html

wurde Genditzki am 17. Januar 2012 von einer anderen Strafkammer des LG München II erneut wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt.

Es ist nicht ganz uninteressant, warum der BGH die erste Verurteilung aufgehoben hat, weil der Grund auf eine gewisse Schlampigkeit und auch Unfairness gegenüber dem Angeklagten im ersten Verfahren hinweist. Der BGH kreidete der Strafkammer nämlich an, dass es im Prozess einen Hinweis an den Angeklagten unterlassen habe, dass sie das Urteil auf eine gegenüber der Anklageschrift veränderte tatsächliche und rechtliche Grundlage stützen wolle. Dieser Austausch geschah, indem das Gericht das für eine Bewertung als Mord erforderliche besondere Merkmal der Tatbegehung unter dem Eindruck offenbar des Ergebnisses der Beweisaufnahme wie ein Ersatzteil einfach auswechselte. Nachdem sich der in der Anklage der Staatsanwaltschaft zugrundegelegte Vorwurf, dass Genditzki Geld der Frau Kortüm unterschlagen hatte, in der Beweisaufnahme nicht erhärten ließ (was zur Folge hatte, dass das Mordmerkmal Habgier zur Verdeckung einer vorangegangenen Unterschlagung ausschied), nahm das Gericht im Urteil einfach kurzer Hand an, dass Gendizki Frau Kortüm im Streit eine Körperverletzung zugefügt habe und dass er eben dieses nun durch eine anschließende Tötung verdecken wollte. Wenn ein Gericht so etwas beabsichtigt, muss es nach der Strafprozessordnung den Angeklagten auf den veränderten rechtlichen Gesichtspunkt hinweisen und fairerweise Gelegenheit geben, sich dazu zu äußern, sprich sich zu verteidigen. Das hatte die Strafkammer nicht getan.

Die Revision gegen das zweite Urteil des Landgerichts München II blieb erfolglos, siehe Beschluss des 1. Strafsenats des BGH vom 5. September 2012 – 1 StR 272/12, lexetius.com/2012, 4285:

Es besteht für den Senat kein Anlass, dem im Revisionsverfahren gestellten Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens nachzugehen. Die u. a. nach Anhörung mehrerer Sachverständiger getroffenen Feststellungen des Tatrichters im angefochtenen Urteil beruhen auf einer rechtsfehlerfreien Gesamtwürdigung aller belastenden und entlastenden Indizien. Auch unter Berücksichtigung des umfangreichen Revisionsvorbringens liegt ein Verstoß gegen gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse, Gesetze der Logik und Erfahrungssätze des täglichen Lebens (vgl. u. a. BGHSt 29, 18, 20) erkennbar nicht vor“.

Nachdem alle Rechtsmittel ausgeschöpft waren, war das Urteil des LG München II vom 17.Januar 2012 rechtskräftig. Damit konnte Genditzki nur noch eine Wiederaufnahme des Verfahrens weiterhelfen. Hier kam nun Regina Rick 2013 als neue Verteidigerin Genditzkis ins Spiel. Um Erfolg mit einem Wiederaufnahmeantrag zu haben, mussten neue Beweismittel vorgelegt werden.

Am 26. Juni 2018 wurde im Bayerischen Landtag auf Einladung des SPD-Abgeordneten Franz Schindler eine von Regina Rick als Verteidigerin beauftragte Computersimulation präsentiert, die zeigt, dass die Verletzungen von Frau Kortüm sehr wohl auch von einem Sturz in die Badewanne herrühren konnten.

Ein Jahr später, am 11. Juni 2019, reichte Regina Rick für Genditzki einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens ein und legte die Computersimulation als neues Beweismittel vor. Dieser Antrag Ricks wurde am 1. Dezember 2019 zunächst vom LG München II als unzulässig verworfen, auf eine mit Schriftsatz vom 1. April 2021 begründete Beschwerde hin vom Oberlandesgericht München am 23. September 2021 jedoch für zulässig erklärt.

Wieder rund ein Jahr später am 12. August 2022 beschloss das Landgericht München II nach einer Beweisaufnahme die Wiederaufnahme des Verfahrens und ordnete die vorläufige Freilassung Genditzkis an. Das war der Durchbruch für Genditzki. Die neue Hauptverhandlung begann am 26. April 2023 und endete am 7. Juli 2023 mit einem Freispruch.

Der Antrag auf Wiederaufnahme stützte sich auf die Computerberechnungen zum Sturzgeschehen und auf eine erst in jüngster Zeit und nach dem Urteil bekannt gewordene Zeugenaussage, dass Lieselotte Kortüm die Angewohnheit hatte, ihre Wäsche in der Badewanne einzuweichen. Das waren tatsächlich neue Tatsachen, die im Rahmen einer Wiederaufnahme Berücksichtigung finden konnten. Die neue Zeugin hatte sich erst nach der Verurteilung Genditzkis aufgrund von Zeitungsberichten gemeldet. Zudem konnte ein Arztbericht vorgelegt werden, dass Frau K. schon früher wiederholt kurzzeitige Ohnmachtsanfälle hatte, die zu Stürzen führten.

Am 1. Dezember 2020 verwarf die 1. Strafkammer am Landgericht München I den Antrag gleichwohl als unzulässig. Die vorgebrachten neuen Beweismittel seien nicht geeignet, das angefochtene Urteil zu erschüttern. Es seien keine neuen Tatsachen oder Beweise vorgebracht worden, die einen Freispruch oder eine Strafmilderung bewirken könnten (§ 359 Nr. 5 StPO). Auf die Beschwerde der Verteidigung, Frau Rick,  hob das Oberlandesgericht München diesen Beschluss am 23. September 2021 auf. Das von der Verteidigung vorgelegte Sachverständigengutachten sei als zulässiges neues Beweismittel im Sinne des § 359 Nr. 5 StPO anzusehen. Das Landgericht habe nun zumindest Beweis durch Anhörung dieses Sachverständigen zu erheben. Erst danach könne es eine Bewertung und Einordnung des Gutachtens vornehmen und über die Begründetheit des Wiederaufnahmeantrags entscheiden. Eine Unterbrechung der Strafvollstreckung sei vor der nun anstehenden Bewertung des Beweismittels allerdings nicht möglich.

Mit Beschluss vom 12. August 2022 (AZ: 1 Ks 121 Js 158 369/19) ordnete das Landgericht München I tatsächlich die Wiederaufnahme des Verfahrens an und entließ Genditzki mit sofortiger Wirkung aus der im Februar 2009 begonnenen Haft. Zur Begründung führte es aus, neue Erkenntnisse, insbesondere aus der Thermodynamik, legten inzwischen ein anderes Bild der Vorgänge nahe. Insbesondere verschiebe eine Rekonstruktion der Temperatur des Badewassers den Todeszeitpunkt deutlich aus dem Rahmen der bisherigen Annahmen, womit Genditzki als Täter ausschied. Ergänzend habe die computergestützte biomechanische Simulation gezeigt, dass auch ein Sturzgeschehen möglich gewesen sei.

Am 26. April 2023 begann die neue Hauptverhandlung am Landgericht München I, die am 7. Juli 2023 mit einem Freispruch endete, den nunmehr auch die Staatsanwaltschaft beantragt hatte. Die Vorsitzende Richterin Elisabeth Ehrl sprach in ihrer mündlichen Urteilsbegründung von einer „Kumulation von Fehlleistungen“ und entschuldigte sich quasi für die Justiz bei Genditzki. Die Ermittlungen am vermeintlichen Tatort und auch später waren äußerst schlampig geführt worden. So war die Temperatur des Badewassers, in dem man die Tote gefunden hatte, nicht gemessen worden, was Aufschluss für den Todeszeitpunkt gegeben hätte. Ferner war der Inhalt eines im Gang stehenden Wäschesacks nie in Augenschein genommen worden, ob sich darin verkotete Wäsche befand, die Frau Kortüm vielleicht in der Badewanne waschen wollte. Zwar war der Sack als Asservat sichergestellt worden, dann jedoch verschwunden.

Rick sagte in einem Interview gegenüber der Mediengruppe Münchner Merkur/tz im April 2023, es hätten ihr vor dem Angehen der entlastenden Gutachten mehrere erfahrene Strafverteidiger geraten, sie solle den Fall sein lassen, und sie habe dies auch ernsthaft erwogen, es dann aber nicht gekonnt. 2018 habe sie ein Staatsanwalt am Telefon quasi ausgelacht, als es um die Computersimulationen ging, die das Sturzgeschehen in einem ganz neuen Licht erscheinen ließen. Rick wird zitiert: „Ich hatte Tränen der Wut in den Augen. Dann dachte ich: „Und Du verlierst jetzt““. (MM vom 20.4.2023 „Das hätte nicht einmal ein Killer geschafft“).

Regina Rick hat zehn Jahre intensiv um die Freilassung von Genditzki gekämpft und dabei etliche, sehr harte Rückschläge hinnehmen müssen. Sie hat von der Arbeitsgemeinschaft Strafrecht des Münchner Anwaltvereins nun im November 2023 völlig verdient für ihre Kompetenz, Hartnäckigkeit und den zehnjährigen Einsatz in dieser Sache den Ehrenpreis „pro reo“ („Einsatz für den Angeklagten“) erhalten. Wie die Presse berichtet, arbeitet sie nun weiter an materiellen und immateriellen Entschädigungen für Genditzki. Die gesetzliche Haftentschädigung beträgt 75 €/Tag Haft (bei Mollath waren es noch 25 €/Tag). Die 75 € ergeben im Fall Genditzki 368.700 €. Damit will Rick sich jedoch für ihren Mandanten nicht zufriedengeben.

Der Hamburger Rechtsanwalt Gerhard Strate, der vor einigen Jahren Gustl Mollath aus der Psychiatrie freigekämpft hat, adelte Regina Rick mit den Worten, sie habe eine natürliche Ausstrahlung, Selbstdarstellung sei ihr völlig fremd, sie sei die lächelnde Hartnäckigkeit in Person und eine Pallas Athene der gerechten Sache.

Faktencheck hat zweimal über den Fall Genditzki und die Bemühungen in diesem Zusammenhang der Strafverteidigerin Rick berichtet, und zwar im Jahresrückblick vor einem Jahr (vom 31. Dezember 2022) für das Jahr 2022/August.  Dort findet sich die Erwähnung, dass das LG München II am 12. August 2022 beschlossen hat, dem Wiederaufnahmeantrag statt zu geben, die Wiederaufnahme anzuordnen und die Freilassung Genditzkis anzuordnen. Davor war die Sache Thema im Faktencheck vom 14. September 2021 „Auch die Justiz kann irren“. Faktencheck berichtete dort über die für Genditzki positive Entscheidung des OLG München, dass das Gutachten des Professors für Simulationstechnologie zum möglichen Ablauf eines Sturzgeschehens doch nicht einfach beiseite gewischt werden kann.

Man muss sich vergegenwärtigen, dass es von der Einreichung des Wiederaufnahmeantrags (und der Vorlage des „Sturzgutachtens“) am 11. Juni 2019 bis zur Anordnung der Wiederaufnahme und der Freilassung Genditzkis (12. August 2022) drei Jahre und zwei Monate und bis zum Freispruch Genditzkis (7. Juli 2023) noch ein weiteres Jahr, also insgesamt mehr als vier Jahre dauerte.

Weitere Quellen:

wikipedia, Abruf am 28. Dezember 2023 zu „Manfred Genditzki“ mit vielen weiteren Belegstellen.

www.manfred-genditzki.de mit einer Zeittafel zur Biografie und zum Verfahrensablauf und hinterlegten Originaldokumenten (dort auch Hinweis auf eine 2019 für Genditzki eingereichte Petition an den Bayer. Justizminister Georg Eisenreich mit 1.297 Unterstützern).

SZ, 26. April 2023: „Alles auf Start““ von Hans Holzhaider:

https://www.sueddeutsche.de/bayern/fall-genditzki-wiederaufnahme-13-jahre-gefaengnis-1.5812805

WELT und Zeit-online, 6. Juli 2023 (einen Tag vor der endgültigen Entscheidung des LG München I): „Anwältin im «Badewannen-Fall»: «Tränen der Wut in den Augen»“ :

https://www.welt.de/regionales/bayern/article246243712/Anwaeltin-im-Badewannen-Fall-Traenen-der-Wut-in-den-Augen.html

SZ, 9. September 2023: „Da hab` ich mir geschworen: Du wirst verlieren“:

https://www.sueddeutsche.de/muenchen/regina-rick-manfred-genditzki-landgericht-muenchen-i-1.6300877?print=true

OVB Heimatzeitungen, 13. November 2023: „Preis für Münchens berühmteste Anwältin“:

https://www.ovb-heimatzeitungen.de/bayern/2023/11/12/preis-fuer-muenchens-beruehmteste-anwaeltin.ovb

Foto: pixabay, Dank an 165106.