Whistleblower-Schutz betrifft auch Gemeinden
Am 23. Oktober 2019 haben das Europäische Parlament und der Europäische Rat die Richtlinie (RL) 2019/1937 erlassen. Sie dient dem Schutz von Personen, die Verstöße gegen speziell definiertes Unionsrecht melden, z. B. auf dem Gebiet der Tiergesundheit oder der Produktsicherheit. Zur Umsetzung dieser sog. Whistleblower-Richtlinie (WBRL) war dem nationalen Gesetzgeber eine Frist gesetzt, die am 17.12.2021 ausgelaufen ist. Das Bundesjustizministerium hat zwar bereits Ende 2019 einen Entwurf für ein deutsches Hinweisgeberschutzgesetz (HinSchG) zur Umsetzung der Richtline vorgelegt, jedoch scheiterte die Verabschiedung am Widerstand von Teilen der Unionsparteien, die eine übermäßige Belastung der deutschen Wirtschaft befürchteten, z. B. durch die Pflicht zur Einrichtung einer betriebsinternen Hinweisgeberstelle. Die Richtlinie nimmt auch Behörden und Gemeinden mit über 10.000 Einwohnern in die Pflicht, sodass z. B. auch Gröbenzell betroffen ist.
Welche Konsequenz hat das Verstreichen der Umsetzungsfrist? Wie man liest, sollen einige in der RL genannten Einrichtungspflichten unmittelbare Rechtsgeltung erlangen auch wenn das nationale Umsetzungsgesetz noch fehlt, weil die Vorgaben in der RL bereits hinreichend genau und damit unmittelbar umsetzungsfähig sind, z. B. soll das für die Eingangsbestätigungs- und Rückmeldepflichten, die Einrichtung schriftlicher und mündlicher Meldekanäle und die zu beachtenden Vertraulichkeitsvorgaben gelten. Nach Meinung von Experten trifft die Untätigkeit des deutschen Gesetzgebers gerade kleinere juristische Personen des öffentlichen Rechts, allen voran Gemeinden, mit dem Fristablauf überwiegend unvorbereitet.
Aus der Sicht eines möglichen Hinweisgebers besteht das Problem, dass er im Hinblick auf den Schutz vor Repressalien (Art. 19 WBRL) sozusagen in der Luft hängt, solange er nicht weiß, an wen er eine Meldung intern oder extern adressieren kann, denn nur gemeldete Hinweise schützen vor Repressalien, seien sie arbeits-, disziplinar-, zivil- oder strafrechtlicher Natur. Allerdings kann die Nichteinrichtung einer Hinweisgeberstelle nicht dazu führen, dass einem Hinweisgeber, sei es vor oder nach Verabschiedung eines Umsetzungsgesetzes, Nachteile entstehen, wenn sich der Hinweisgeber mit seinem Hinweis ersatzweise z. B. an die Rechtsabteilung der betreffenden Körperschaft wendet, solange noch keine interne Hinweisgeberstelle eingerichtet ist. Dafür bräuchte es allerdings nur die Bestellung eines Beauftragten, der diese Aufgabe auch durchaus neben einer anderen Tätigkeit ausüben kann.
Die WBRL sieht ein gestuftes System bei der Bekämpfung von Missständen vor. Nach Art. 15 WBRL muss der Hinweisgeber vor dem Gang an die Öffentlichkeit, wenn er den Schutz der WBRL für sich in Anspruch nehmen will,
- entweder zunächst bei einer internen und externen Meldestelle Meldung erstatten und abwarten, ob die Körperschaft, also z. B. die Gemeinde, auf seine Meldung innerhalb vorgesehener Fristen reagiert (7 Tage für eine Eingangsbestätigung und 3 Monate für eine Auskunft über Folgemaßnahmen), oder
- hinreichenden Grund zur Annahme haben, dass der Verstoß eine unmittelbare oder offenkundige Schädigung des öffentlichen Interesses darstellen kann.
Zum Schutz vor missbräuchlichen Meldungen bestimmt Art. 6 WBRL ergänzend, dass Hinweisgeber einen Anspruch auf Schutz dieser Richtlinie (nur dann) haben, wenn sie bei der Meldung hinreichenden Grund zu der Annahme hatten, dass die Informationen über Verstöße zum Zeitpunkt der Meldung der Wahrheit entsprechen und dass die Informationen in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fallen, also eine in der Anlage zur WBRL aufgeführte Materie betreffen wie z. B. Vergabewesen, Umwelt- oder Naturschutz, Gesundheits- oder Tierschutz oder Produkt- und Verkehrssicherheit. Jedoch steht es dem nationalen Gesetzgeber offen, weitere Materien in den Hinweisgeberschutz miteinzubeziehen. Dies zu tun, war in dem gescheiterten Entwurf auch vorgesehen.
Im Koalitionsvertrag der neuen Regierung (Ampelkoalition) heißt es nun auf Seite 111:
„Wir setzen die EU-Whistleblower-Richtlinie rechtssicher und praktikabel um. Whistleblowerinnen und Whistleblower müssen nicht nur bei der Meldung von Verstößen gegen EU-Recht vor rechtlichen Nachteilen geschützt sein, sondern auch von erheblichen Verstößen gegen Vorschriften oder sonstigem erheblichen Fehlverhalten, dessen Aufdeckung im besonderen öffentlichen Interesse liegt. Die Durchsetzbarkeit von Ansprüchen wegen Repressalien gegen den Schädiger wollen wir verbessern und prüfen dafür Beratungs- und finanzielle Unterstützungsangebote.“
Damit ist klar, dass der national beabsichtigte Hinweisgeberschutz nicht nur bei Verstößen gegen EU-Recht greifen soll, sondern auch bei Verstößen bloß gegen nationales Recht, z. B. also bei Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten. Allerdings erscheint die Überschrift, unter der diese Ausführungen im Koalitionsvertrag stehen („Unternehmensrecht“) zu eng, da die WBRL ausdrücklich auch Missbräuche in der öffentlichen Verwaltung bekämpfen will.
Das Erfordernis eines hinreichenden Grundes für die Annahme eines Verstoßes führt zur Frage, ob ein Whistleblower Nachforschungsobliegenheiten im Vorfeld einer Strafanzeige oder einer Offenlegung gegenüber den Medien hat.
Der Europ. Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) wendet bei der Prüfung, ob ein Eingriff in das Recht eines Arbeitnehmers/Hinweisgebers auf Achtung seiner Freiheit der Meinungsäußerung zu dem verfolgten berechtigten Ziel verhältnismäßig ist, sechs Kriterien an. Das zweite Kriterium ist, ob die an die Öffentlichkeit gegebene Information richtig war, und das dritte ist, ob das Interesse der Öffentlichkeit daran, dass die Information verbreitet wird, den Schaden, den der Arbeitgeber durch die Veröffentlichung erlitten hat (Reputationsverlust), überwiegt. Zu dem zweiten Kriterium führt der EGMR in einem Urteil vom 16.2.2021 – Az. 23922/19 (Gawlik/Lichtenstein) – aus, dass die Freiheit der Meinung mit Pflichten und Verantwortung verbunden ist, und daher jeder, der Informationen weitergeben will, soweit nach den Umständen möglich, sorgfältig prüfen muss, ob sie genau und zuverlässig sind. Das gelte besonders, wenn der Offenbarende gegenüber seinem Arbeitgeber zu Vertraulichkeit und Loyalität verpflichtet ist und es um einen Angriff auf den Ruf einer Privatperson geht. Die Weitergabe der Information müsse viertens das letzte Mittel sein, d. h., dass der Hinweisgeber sie vorher schon intern offenbart haben muss. Fünftes spielen die Motive für die Handlungsweise des Hinweisgebers eine Rolle. Handelt er aus Rache, Groll oder Gewinnstreben schlägt das negativ zu Buche.
Der Hinweisgeberschutz, so er denn einmal im nationalen Recht installiert ist, wird einen ganz erheblichen Fortschritt für die Transparenz nicht nur im Unternehmensrecht, sondern auch für das Verwaltungshandeln und damit für die Bekämpfung von Missbrauch, Plünderung und Korruption auch dort bringen. Nach Skandalen in der letzten Zeit wie den um Wirecard und die bekannten Maskengeschäfte ist es dringend nötig, dass Staat und Politik wieder mehr Vertrauen zurückerlangen. Es kann nicht angehen, dass staatlich schützende Aufsicht entweder schlicht nicht vorhanden ist oder katastrophal versagt, sei es, dass es um fehlende oder von Haus aus löchrige Gesetze wie den § 108 e StGB („symbolische Gesetzgebung“) geht – daran scheiterte eine Beschlagnahme von Maskenprovisionen -, oder um die anfängliche Strafverfolgung eines Hinweisgebers im wirecard-Skandal, oder um die Entsendung von Unternehmensangestellten in ein Ministerium zum Mitschreiben an wichtigen Gesetzen, oder um die Diffamierung engagierter Strafverfolgungsorgane wie z. B. die Kölner Staatsanwältin Anne Brorhilker in dem Komplex von Cum-Ex.
Faktencheck hat bezogen auf Gröbenzell in einem früheren Faktencheck schon einmal angeregt, nach dem Vorbild z. B. von Puchheim einen Verhaltenskodex zu beschließen, in dem sich die Verantwortlichen und Wissenssträger der Gemeinde im Voraus selbstverpflichten.
Literatur:
Simon Gerdemann, Das neue deutsche Whistleblowing-Recht, NJW 2021, 3489 – 3494;
derselbe, Unmittelbar bevorstehende Pflichten zur Einrichtung verwaltungsinterner Whistleblowing-Stellen, NVwZ 2021, 1721 – 1726;
Christiane Siemes, Die Whistleblowing-Richtlinie der EU, Boorberg-Verlag, 2021
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