„Noblesse oblige“ oder auch bayerisch: „leben und leben lassen“

In Blog by Johann G. Böhmer

In der Aktuellen Viertelstunde der Gemeinderatssitzung am 18.6.2020 nahm der Gröbenzeller Kai Rotermund, der in der letzten Bürgerversammlung vom November 2019 einen ohne Mehrheit gebliebenen Bürgerantrag gestellt hatte (Einfrieren der Änderung der Bebauungspläne bis zur Fertigstellung eines neuen Rahmenplans), den Tagesordnungspunkt 7 zum Anlass, ergänzend unter anderem dafür zu plädieren, dass Mitglieder des Gemeinderates bei der Abstimmung über Bürgeranträge in der Bürgerversammlung anders, wie in seinem Fall geschehen, nicht mitabstimmen sollen. In dem Tagesordnungspunkt 7 stand ein Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die GRÜNEN zur Geschäftsordnung zur Debatte, der die Deckelung der Vortragszeit für die Verwaltungsspitze bei der Bürgerversammlung bezweckte. Laut Bericht im Fürstenfeldbrucker Tagblatt vom 24.6.2020 verteidigte die Gemeinderätin Anita Rieger (CSU) gegenüber dem Vortrag von Herrn Rotermund in der Sitzung sogleich ihr Recht, auch auf einer Bürgerversammlung über Bürgeranträge mitzustimmen, mit dem Argument, dass ja auch sie eine Bürgerin der Gemeinde sei („Ich lasse mir meine Rechte als Bürgerin nicht verbieten“), und bekam dafür von ihren Kollegen im Gemeinderat viel Beifall.

Faktencheck

Es gibt weder in der Bayerischen Gemeindeordnung (GO) noch in der Mustersatzung des Bayerischen Gemeindetags für die Geschäftsordnung einer Gemeinde eine Regelung, die es Mitgliedern des Gemeinderates verbietet, an Abstimmungen über Bürgeranträge in einer Bürgerversammlung teilzunehmen. Die einzige gesetzliche Anforderung für die Berechtigung zur Teilnahme an einer solchen Abstimmung ist, dass jemand Bürger der Gemeinde sein muss (Artikel 18 Abs. 3 Satz 4 GO).

In der Gemeindeordnung gibt es nur eine sehr knappe Regelung zur Bürgerversammlung. Eine solche muss mindestens einmal im Jahr stattfinden. Wenn ein von einem Bürger gestellter Antrag von der Mehrheit der anwesenden Gemeindebürger angenommen wird, ist der Gemeinderat verpflichtet, sich binnen drei Monaten – in der Regel in einer öffentlichen Sitzung – mit dieser Empfehlung der Bürgerversammlung, wie der angenommene Antrag dann heißt, zu befassen. Die Konsequenz eines erfolgreichen Antrags ist also überschaubar und beinhaltet keine unmittelbare Verpflichtung oder Bindung für ein Gemeindeorgan.

Bewertung:

Wenn ein Mitglied eines Gemeinderats in einer Bürgerversammlung gegen einen Bürgerantrag stimmt, bringt es zum Ausdruck, dass es sich mit dem Anliegen nicht befassen will. Die Antragsablehnung hat also das öffentliche Signal einer Befassungsverweigerung. Indirekt kann jeder Antrag in einer Bürgerversammlung auch bei einer zurückhaltenden Formulierung als Kritik an der Verwaltung oder dem Gemeinderat aufgefasst werden, es sei ein bestimmtes Problem noch nicht erkannt oder es bestehe bisher keine Bereitschaft, sich mit dem Anliegen auseinander zu setzen. Es kann daher leicht die Versuchung bei der Verwaltung oder den Mitgliedern des Gemeinderates entstehen, Bürgeranträge möglichst nicht aufkommen zu lassen.

Schon allein, um einen solchen Eindruck im Ansatz zu vermeiden, sollten sich die Verwaltung und die Mitglieder des Gemeinderates in der Bürgerversammlung zurückhalten und sich bei einer Abstimmung strikt der Stimme enthalten. Sie können ja dann im Gemeinderat ganz normal beraten und abstimmen. Es kommt noch ein zweiter Aspekt hinzu: ein Gemeinderatsmitglied weiß ja bei der Abstimmung in der Bürgerversammlung noch gar nicht, wie die Abstimmung ausgeht. Stimmt es dafür oder dagegen, hat es sich für die Gemeinderatssitzung schon vorab festgelegt, ohne den Vortrag der Verwaltung zu der Sache abzuwarten. Der demokratische Willensbildungsprozess läuft in so einem Fall unrund und hinkt gewissermaßen.

Zu bedenken ist auch, dass ein Bürger sehr wenig effektive Möglichkeiten hat, auf Dinge politisch Einfluß zu nehmen. Außer der Stimmabgabe bei der Kommunalwahl, die nur alle sechs Jahre stattfindet, hat er das allgemeine Petitionsrecht und das Recht, in der Aktuellen Viertelstunde vor dem Gemeinderat zu sprechen – dieses Recht gilt aber z.B. schon wieder nicht in Ausschusssitzungen – oder eben in der Bürgerversammlung Anträge zu stellen, recht viel mehr aber nicht. Eine Bürgerversammlung findet aber gewöhnlich nur einmal im Jahr statt. Nicht für jeden Bürger ist außerdem es leicht, vor einem so großen Auditorium wie einer Bürgerversammlung einen Antrag zu stellen und sein Anliegen zu begründen. Muss der Bürger in der Bürgerversammlung auch noch mit Gegenreden und Gegenstimmen aus dem Kreis des Gemeinderats rechnen, ist die Hemmschwelle noch höher.

Ergebnis:

Es kann daher auch ohne ein ausdrückliches Verbot nur so sein, dass Gemeinderatsmitglieder über Bürgeranträge in einer Bürgerversammlung nicht mitstimmen sollten. Das basisdemokratische Initiativrecht der Bürgerversammlung, der Verwaltung Aufgaben zu erteilen oder Vorgaben zu machen, steht gleichberechtigt neben dem Initiativrecht der Fraktionen oder der Verwaltung, Anträge in den Gemeinderat einzubringen. Dies sollte vom Gemeinderat und seinen Mitgliedern als Ausdruck eines ganz legitimen Vorgangs ohne irgendeine Ablehnung, inbesondere ohne Antragsablehnung in der Bürgerversammlung hingenommen werden.

Dies wird bestätigt durch eine Information aus Puchheim. Von einem langjährigen Stadtrat aus Puchheim erhielt Faktencheck die Auskunft, dass in Puchheim Stadträtinnen/Stadträte bei Bürgerversammlungen eine ausschließlich auf Wahrnehmung beschränkte Haltung einnehmen. Sie stimmen weder bei Anträgen mit, noch beteiligen sie sich bei Diskussionen. Für die Gemeinde/Stadt agiert nur der Erste Bürgermeister. Als Grund führt man in Puchheim an, die Bürgerversammlung sei ja für die Bürger da und nicht für die Stadträte. Diese hätten dafür die Plattform des Stadtrates.

Fazit:

Es geht um einen Fall der Selbstbeschränkung oder Selbstverpflichtung (noblesse oblige), wie ihn unsere Rechtskultur auch in anderen Fällen kennt, z. B. bei der richterlichen Selbstbeschränkung im Verfassungsrecht für das Verhältnis Verfassungsgericht – Parlament. Jede legitime Kraft im Gefüge des Ganzen läßt der anderen ihren ureigenen Raum und erdrückt oder erdrosselt sie nicht, oder bayerisch gesagt: leben und leben lassen.

Ergänzung:

Der Antrag des Zweiten Bürgermeisters Runge, die Redezeit des Ersten Bürgermeisters bei seinem Rechenschaftsbericht auf 45 Minuten nach dem Vorbild von Starnberg zu beschränken (TOP 7 auf der Tagesordnung der Gemeinderatssitzung vom 18.6.2020), wurde bis zur Rückkehr in den Sitzungssaal des Rathauses – man tagt ja derzeit Corona-bedingt im Freizeitheim – zurückgestellt. Martin Runge hat seinen Antrag in der Sitzung laut Pressebericht selbst mit dieser Maßgabe zurück gezogen, weil es sich im Sitzungssaal des Rathauses durch die Anordnung der Tische direkter, heißt dann wieder mit direktem Blickkontakt, diskutieren läßt.

Die Redezeit des Bürgermeisters und das Stimmrecht der Mitglieder des Gemeinderates sind aber nur zwei Punkte aus dem gesamten Themenkreis „Bürgerversammlung“. Kai Rotermund ging der Antrag von Bündnis 90/Die GRÜNEN gemessen an der Praxis in München und in Starnberg auch sonst nicht weit genug. Weitere von ihm vorgetragene Punkte sind in der Tat diskussionswürdig, wie z. B. die Bewerbung der Veranstaltung „Bürgerversammlung“, eine Aufklärung der Bürger über ihr Recht auf Antragstellung, das Recht, das Rednerpult auf dem Podium zu nutzen, und die Möglichkeit, den Beamer für Visualisierungen zu nutzen. Man darf gespannt sein, ob sich die herrschende Praxis auch in diesen Punkten in Zukunft den Bürgern mehr öffnet. Die Wahlversprechen gäben dies her.